Die Rosenschale

von Rainer Maria Rilke

 

Zornige sahst du flackern, sahst zwei Knaben

zu einem Etwas sich zusammenballen,

das Haß war und sich auf der Erde wälzte

wie ein von Bienen überfallnes Tier;

Schauspieler, aufgetürmte Übertreiber,

rasende Pferde, die zusammenbrachen,

den Blick wegwerfend, bläkend das Gebiß

als schälte sich der Schädel aus dem Maule.

 

Nun aber weißt du, wie sich das vergißt:

denn vor dir steht die volle Rosenschale,

die unvergeßlich ist und angefüllt

mit jenem Äußersten von Sein und Neigen,

Hinhalten, Niemals-Gebenkönnen, Dastehn,

das unser sein mag: Äußerstes auch uns.

 

Lautloses Leben, Aufgehn ohne Ende,

Raum-brauchen ohne Raum von jenem Raum

zu nehmen, den die Dinge rings verringern,

fast nicht Umrissen-sein wie Ausgespartes

und lauter Inneres, viel seltsam Zartes

und Sich-bescheinendes - bis an den Rand:

ist irgend etwas uns bekannt wie dies?

 

Und dann wie dies: daß ein Gefühl entsteht,

weil Blütenblätter Blütenblätter rühren?

Und dies: daß eins sich aufschlägt wie ein Lid,

und drunter liegen lauter Augenlider,

geschlossene, als ob sie, zehnfach schlafend,

zu dämpfen hätten eines Innern Sehkraft.

Und dies vor allem: daß durch diese Blätter

das Licht hindurch muß. Aus den tausend Himmeln

filtern sie langsam jenen Tropfen Dunkel,

in dessen Feuerschein das wirre Bündel

der Staubgefäße sich erregt und aufbäumt.

 

Und die Bewegung in den Rosen, sieh:

Gebärden von so kleinem Ausschlagswinkel,

daß sie unsichtbar blieben, liefen ihre

Strahlen nicht auseinander in das Weltall.

 

Sieh jene weiße, die sich selig aufschlug

und dasteht in den großen offnen Blättern

wie eine Venus aufrecht in der Muschel;

und die errötende, die wie verwirrt

nach einer kühlen sich hinüberwendet,

und wie die kühle fühllos sich zurückzieht,

und wie die kalte steht, in sich gehüllt,

unter den offenen, die alles abtun.

Und was sie abtun, wie das leicht und schwer,

wie es ein Mantel, eine Last, ein Flügel

und eine Maske sein kann, je nach dem,

und wie sie's abtun: wie vor dem Geliebten.

 

Was können sie nicht sein: war jene gelbe,

die hohl und offen daliegt, nicht die Schale

von einer Frucht, darin dasselbe Gelb,

gesammelter, orangeröter, Saft war?

Und war's für diese schon zu viel, das Aufgehn,

weil an der Luft ihr namenloses Rosa

den bittern Nachgeschmack des Lila annahm?

Und die batistene, ist sie kein Kleid,

in dem noch zart und atemwarm das Hemd steckt,

mit dem zugleich es abgeworfen wurde

im Morgenschatten an dem alten Waldbad?

Und diese hier, opalnes Porzellan,

zerbrechlich, eine flache Chinatasse

und angefüllt mit kleinen hellen Faltern, -

und jene da, die nichts enthält als sich.

 

Und sind nicht alle so, nur sich enthaltend,

wenn Sich-enthalten heißt: die Welt da draußen

und Wind und Regen und Geduld des Frühlings

und Schuld und Unruh und vermummtes Schicksal

und Dunkelheit der abendlichen Erde

bis auf der Wolken Wandel, Flucht und Anflug,

bis auf den vagen Einfluß ferner Sterne

in eine Hand voll Innres zu verwandeln.

und wie sie's abtun: wie vor dem Geliebten.

 

Nun liegt es sorglos in den offnen Rosen.

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