Gedanken zu Leid und Schmerz

 

Überwinde glücklich die Gefahren, denen du mit deiner Geburt ausgesetzt wurdest: baue dir ein Schiff aus Entschlossenheit und Willenskraft und setze über den Strom, dessen Wasserfluten die fünf Sinne sind und in dem Ungeheuer wie Liebe und Zorn hausen.

Indische Spruchweisheit (Mahabharata-Epos)

 

Warum muss ich Hindernisse für meine Wünsche finden? Warum muss mein Glück durch Leiden gestört werden? Doch was sage ich! Würde ich die Güter, welche mir geboten werden, wahrhaft geniessen, wenn ich nie einen Sieg zu erkämpfen hätte? Würde ich sie geniessen, wenn die Übel, über welche ich mich beklage, mich nicht ihren Wert erkennen lehrten? Mein Unglück selbst trägt zu meinem Glücke bei, und der grösste Genuss der Güter entspringt aus der lebhaften Vorstellung der Übel, mit denen ich sie vergleiche. Der wechselnden Wiederkehr beider verdanke ich alle meine Erkenntnisse, verdanke ich Alles, was ich bin.

Étienne Bonnot de Condillac (1, 217), Abhandlung über die Empfindungen

 

Möglichst viel Glück, sagt man. Aber wie, wenn die höchste Glücksempfindung einen Menschen voraussetzte, der auch Allertiefstes gelitten haben muß? Wenn Glücksgefühl überhaupt erst möglich wäre in einem durch Lust und Unlust gereiften Herzen? Wer möglichst viel Glücksmöglichkeiten fordert, muß auch möglichst viel Unglück fordern, oder er negiert ihre Grundbedingungen.

Christian Morgenstern (1, 91), Sprüche, Epigramme, Aphorismen, Notizen

 

So ist das Glück in seinem ganzen Umfang genommen die größte Lust, deren wir fähig sind, und das Unglück ebenso genommen der größte Schmerz, den wir fühlen können. Und der unterste Grad dessen, was man Glück nennen kann, ist derjenige Zustand, wo man, von jedem Schmerze frei, ein solches Maß gegenwärtiger Lust genießt, daß man mit einem geringeren nicht zufrieden sein kann.

Gottfried Wilhelm Leibniz (1, 177), Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand

 

Der Mensch wird durch das Leid erst gehärtet, um das Glück ertragen zu können; so wie der Ton im Feuer gebrannt wird, um Wasser fassen zu können.

Aurelius Augustinus

 

Euer Schmerz ist das Zerbrechen der Schale, die euer Verstehen umschließt.
Wie der Kern der Frucht zerbrechen muß, damit sein Herz die Sonne erblicken kann, so müßt auch Ihr den Schmerz erleben.

Khalil Gibran, Der Prophet

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